Thüringen vor der Wahl: „Die Gewaltbereitschaft wächst“

Die SPD hat sich viel vorgenommen, um Verbesserungen im Alltag der Menschen zu erreichen, etwa durch die Stärkung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Laut Wahlprogramm soll Thüringen zum familienfreundlichsten Bundesland werden. Muss die Partei ihre Ziele und Erfolge besser verkaufen?
Ein familienfreundliches Thüringen scheint nur wenige Menschen zu interessieren. Laut der FES-Studie ist Familienpolitik nur für gut fünf Prozent der Befragten relevant. Schlagworte helfen wenig. Wir müssen den Bürger*innen besser erklären, was „familienfreundlich“ im Detail bedeutet, dass damit zum Beispiel ein besserer Betreuungsschlüssel in den Kitas oder ein kostenloses Schulessen gemeint sind.
Um der polarisierten politischen Stimmung zu begegnen, plädieren die Autoren der Studie für eine „herausragende“ politische Bildung, Aufklärung über Sachzusammenhänge und nachvollziehbare politische Entscheidungen. Genügt das, um die AfD zu stoppen?
Die Forderung nach einer nachvollziehbaren Politik unterschreibe ich vorbehaltlos. Um Angebote der politischen Bildung wahrzunehmen, braucht es bei der Zielgruppe ein Defizitbewusstsein. Dieses haben Menschen, die aus einer rassistischen Motivation heraus AfD wählen, allerdings nicht. Man kann das also auch nicht erzwingen.
Eine erweiterte politische Bildung in Schulen kann aber wirksam sein, um künftige Wähler*innen für eine demokratische Einstellung zu gewinnen.
Die SPD setzt sich seit Jahren dafür ein, die Haushaltstitel für politische Bildung zu erhöhen. Die Koalition unterstützt Erstwähler*innen-Kampagnen und darüber hinaus Träger politischer Bildung, auch im Erwachsenenbereich, darin, eine überjährige Finanzierung zu bekommen, um mehr Planungssicherheit zu haben und mehrjährige Projekte auf den Weg bringen zu können.
Wir brauchen Maßnahmen, die schon jetzt einen weiteren Aufstieg der AfD verhindern. Sonst ist es in Thüringen eines Tages vielleicht ganz aus mit politischer Bildung.
Laut der FES-Studie sind typische AfD-Wählenden unter 30, männlich, Arbeiter, von eher durchschnittlicher Bildung sowie vom Land. Wie will die SPD diese Menschen erreichen? Welches Angebot hat sie für sie?
Das primäre Angebot besteht darin, an die Politik adressierte Probleme zu lösen. Die Landesregierung hat bei der Zuwanderung einiges in die richtige Bahn gelenkt und den Eindruck widerlegt, die Dinge würden drunter und drüber gehen. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl hat es massive Schwierigkeiten gegeben. Innenminister Georg Maier hat daraus die Konsequenz gezogen, das Haus bis zum Jahr 2026 zu schließen. Der Neubau wird nach modernsten Richtlinien ausgestattet sein. Das wird den Unmut in der Region über die bisherigen Zustände dämpfen.
Aber es gilt eben auch: Ein großer Teil der AfD-Wähler*innen hat früher gar nicht gewählt. Darunter sind viele Menschen, die sich für unser gesellschaftliches und politisches System nicht wirklich interessieren. Sie wissen so gut wie nichts über Gewaltenteilung oder das Wahlrecht. Diese Menschen erreichen wir nicht, auch nicht, indem wir die Probleme lösen. Ein guter Teil von ihnen wählt die AfD nicht obwohl, sondern weil sie rechtsextrem ist.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sieht das Vertrauen in die Demokratie allerorten schwinden. Wie spüren Sie das in Thüringen? Inwiefern ist die Situation dort eine besondere?
Rechtsextreme Tendenzen haben hier leider eine lange Tradition. 1930 hatte Thüringen als erstes Land eine Regierung unter Beteiligung der NSDAP. Rassismus und Antisemitismus von damals sind nicht verschwunden. In Form von Höckes AfD hat dieses Potenzial jetzt ein politisches Ventil gefunden.
Dass viele Menschen Schwierigkeiten mit der Demokratie haben, ist aber auch ein Ergebnis der vergangenen 35 Jahre. Immer wieder haben die Linke und ihre Vorgängerpartei PDS Zweifel an demokratischen Institutionen geschürt. Mittlerweile ist Die Linke in Thüringen staatstragend geworden. Menschen, die der Demokratie kritisch gegenüberstehen, haben sich daher einen neuen Fokus gesucht.
Obendrein haben etliche Ostdeutsche, die den Kurs der Ampel gegenüber Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht mittragen, das Gefühl, mal wieder vom Westen untergebuttert zu werden. Auch das sorgt für Frust. Die Gewaltbereitschaft unter den Frustrierten wächst.