Beobachtung durch den Geheimdienst: Was bedeutet das Verfassungsschutz-Urteil für die AfD?

Am Tag nach der Entscheidung herrscht bei der AfD fast schon Sprachlosigkeit. Viele hatten mit der Beobachtung der Gesamtpartei durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zwar längst gerechnet. Dass das Verwaltungsgericht in Köln allerdings schon am Dienstagabend seine Entscheidung zugunsten des Inlandsgeheimdienstes bekannt geben würde, kam für manche in der Partei dann doch überraschend.
Eigentlich waren zwei Verhandlungstage angesetzt worden. »Wir hatten uns ein anderes Ergebnis erhofft«, räumte Parteichef Tino Chrupalla noch am Dienstagabend ein. Die Partei werde jetzt die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, diese sorgsam prüfen und dann entscheiden, ob »wir weitere Rechtsmittel einlegen werden«. Fraktionschefin Alice Weidel sagte dem SPIEGEL am Mittwoch, man werde sich »selbstverständlich weiter juristisch zur Wehr setzen«.
Die Partei schließt, zumindest nach außen, die Reihen. Die Berliner Landeschefin Kristin Brinker nennt das Urteil »verheerend für die Demokratie«. Es ist der Tenor, der fast alle Äußerungen durchzieht, ob von radikalen oder den im Vergleich dazu gemäßigteren Kräften in der Partei. »Wir lassen uns durch dieses Urteil nicht einschüchtern und werden auch weiterhin die katastrophalen Fehler und Versäumnisse der Altparteien bloßlegen«, sagt Brinker, die sich im vergangenen Jahr bei ihrer Wahl zur Berliner Parteichefin auch auf die radikalen Kräfte stützte.
Der den gemäßigteren Kräften zugerechnete AfD-Bundestagsabgeordnete Kay Gottschalk twitterte: »Ein Verfassungsschutz, der die Regierungsparteien schützt und die AfD überwacht, weil sie gegen Euro, EU-Zentralismus und gegen ungesteuerte Zuwanderung ist, schützt nicht die Meinungsfreiheit und die Verfassung!«
Sein Parlamentskollege Sebastian Münzenmaier äußerte sich im Magazin »Info Direkt«, das der rechtsextremen »Identitären Bewegung« nahesteht: Das Bundesamt vollstrecke »den Willen der vorherigen und jetzigen Regierungsparteien, eine Oppositionspartei zu verfolgen«. Und er fabuliert, die Gerichtsentscheidung sei »ein fatales Signal einer zunehmenden totalitären Haltung der Regierenden und ein Anschlag auf die Demokratie«.


Aktenordner für die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Köln am 8. März 2022 in einer Messehalle: Vier Klagen der AfD verhandelt
Foto: Federico Gambarini / dpaZugleich versucht die Bundespartei den Eindruck zu erwecken, als habe man die mögliche Beobachtung längst eingepreist. »Ich habe keine Angst«, hatte AfD-Chef Tino Chrupalla noch wenige Tage vor dem Urteil gegenüber dem SPIEGEL erklärt und betont, die Entscheidung könne »auch ein Befreiungsschlag« sein. Das gilt aber nicht für alle der rund 30.000 Mitglieder – zumindest für einen Teil von ihnen könnte der Richterspruch Folgen haben.
So dürfte es etwa für Beamte mit AfD-Parteibuch ungemütlicher werden. Zwar reicht eine Mitgliedschaft allein nach Ansicht von Rechtsexperten nicht für eine Entfernung aus dem Staatsdienst aus. Allerdings kann sie die Frage nach der Verfassungstreue eines Beamten aufwerfen und dazu führen, dass der Dienstherr disziplinarrechtliche Schritte prüft – und falls ein Beamter etwa selbst als Funktionär rechtsextrem agitiert der Rauswurf folgen.
Jeder Fall muss jedoch einzeln geprüft werden. In sicherheitsrelevanten Bereichen wie Polizei, Justiz, Bundeswehr oder den Nachrichtendiensten dürfte die Schwelle für ein Einschreiten dabei niedriger liegen.
Noch vor der AfD-Entscheidung hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zudem angekündigt, Verfassungsfeinde schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernen zu wollen als bisher. Ihr Eindruck sei, dass dies »oft viel zu lange dauert«. Die Rahmenbedingungen müssten so gesetzt werden, dass »schneller und konsequenter« gehandelt werde.
»Zahlreiche Fragen aus der Mitgliedschaft«Interne Unterlagen zeigen, dass man sich auch in der AfD über die möglichen Folgen durchaus Gedanken macht. Erst Anfang März ging in der Bundestagsfraktion eine Mail rund, die sich an »alle Beamten, Richter, Soldaten und Polizisten sowie Angestellten des öffentlichen Dienstes« in der AfD richtete. »Lassen Sie sich nicht durch Fehlinformationen in die Irre führen«, lautete eine zentrale Aussage der Mail, die dem SPIEGEL vorliegt. Unterschrieben war die digitale Post von zehn Mitgliedern der Partei, die einst im öffentlichen Dienst arbeiteten oder derzeit davon freigestellt sind. Darunter waren unter anderem ein Oberstudienrat a. D., ein Berufsschullehrer, eine Regierungsschuldirektorin a. D., ein Polizeioberkommissar, ein Generalleutnant a. D.
Deren Unterschriften sollten beruhigende Wirkung in der Mitgliedschaft entfalten – doch das gelingt offenkundig nicht so wie beabsichtigt. Die Verunsicherung in der Partei lässt sich nämlich indirekt aus einer frischen AfD-Mail an alle Mitglieder und Förderer herauslesen, die am 9. März – also am Tag nach dem Urteil – verschickt wurde und die dem SPIEGEL ebenfalls vorliegt: »Da uns bereits zahlreiche Fragen aus der Mitgliedschaft erreicht haben und die Berichterstattung in den Medien zum Teil irreführend ist, möchten wir in aller Kürze zu den am 8. März 2022 gefällten Urteilen des Verwaltungsgerichtes Köln in Sachen Verfassungsschutz Stellung nehmen«, heißt es dort.
Das Schreiben richtet sich unter anderem an »Beamte, Richter, Soldaten und Polizisten sowie andere Angestellte im öffentlichen Dienst«. Diese müssten wegen einer Verdachtsfalleinstufung der AfD »weder die Entlassung aus dem Dienst noch eine Gefährdung ihrer Pensionsansprüche befürchten – wenn sie innerhalb unserer Partei, wie die anderen Mitglieder auch, nachweisbar für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten«.
Die anstehende, bundesweite Geheimdienstbeobachtung wird, so erfuhr der SPIEGEL, auch an diesem Mittwochabend im thüringischen Oberhof eine Rolle spielen, wo sich die Bundestagsabgeordneten der AfD zu einer lange geplanten, bis Samstag dauernden Fraktionsklausur im »Berghotel Oberhof« versammeln.
Die Stimmung ist durchwachsen. Ein AfD-Mitarbeiter der Fraktion sagt es so: »Noch gibt es keine Hinweise auf einen größeren Aderlass. Aber die Verärgerung und Verunsicherung ist da, auch gegenüber der Parteispitze.« Womöglich werde es nun schwieriger, überhaupt noch gemäßigtere Mitglieder für die Partei und »fähige Mitarbeiter« für die Landtagsfraktionen und die Bundestagsfraktion zu werben. Wie sich das alles auswirke, werde sich wohl erst in einigen Wochen zeigen, glaubt er.
Wie geht es nun weiter?Nach dem Urteil von Köln könnte das Bundesamt für Verfassungsschutz bald mit der Überwachung der AfD beginnen. Formal muss das Verwaltungsgericht noch einen sogenannten »Hängebeschluss« aus dem vergangenen Jahr aufheben, der die bereits damals geplante Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst vorerst gestoppt hatte. Dies soll laut Gericht »zeitnah« geschehen, eine Beschwerde der AfD könnte den Schritt allerdings weiter verzögern.
Bereits bei einem »Verdachtsfall« kann der Verfassungsschutz geheimdienstliche Methoden einsetzen, etwa bezahlte Informanten in der Partei anwerben, die aus internen Runden berichten, oder im Extremfall heimlich E-Mails mitlesen oder die Telefone von AfD-Funktionären überwachen. Genehmigen müsste einen solchen Lauschangriff in jedem Einzelfall die vierköpfige G-10-Kommission des Bundestags, die von einem ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten und einem früheren Verwaltungsrichter geleitet wird.
Insbesondere bei Abgeordneten im Bundestag und den Landesparlamenten muss der Verfassungsschutz jedoch streng auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Das entschied 2013 das Bundesverfassungsgericht. Eine Geheimdienstüberwachung komme vor allem dann in Betracht, »wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft«. Komplett verboten ist es dem Verfassungsschutz, Informanten in den Parlamenten zu führen – V-Leute im Bundestag oder den Landtagen darf es laut Gesetz nicht geben.